Fast hätte es für Reinhold Franz Habisch zu einer Jahres-Runde gereicht. Am 8. Januar 1889 in Berlin am Strausberger Platz geboren, verstarb er einen Tag vor seinem 75. Geburtstag am 7. Januar 1964. Damals, 1889, war die Gegend um den Strausberger Platz nicht das Viertel mit den Arbeiterpalästen des Arbeiter- und Bauernstaats, angefüllt mit systemtreuen Mieterinnen und Mietern, sondern eher ein Viertel der armen Leute, der Ganoven und der Tagelöhnerinnen und Tagelöhner.
Reinhold Franz Habisch wuchs auf in einer Zeit als der Siegeszug des Fahrrads begann. Es wurden die ersten Fahrradrennen ausgetragen und als 1896 das ersten Fahrradrennen „Rund um Berlin“ statt fand säumten tausende begeistere Zuschauerinnen und Zuschauer die Strassen, so auch der junge Habisch. Er war fasziniert von Josef Fischer, der im selben Jahr das erste, heute legendäre, Eintagesrennen PARIS-ROUBAIX gewann. Habisch wollte seinem Vorbild Josef Fischer nacheifern, besorgte sich ein Fahrrad und begann zu trainieren, meist im „Nudeltopp“1 von Treptow. Doch 1905 zog das Schicksal die rote Karte. Habisch, gerade einmal 16 Jahre alt, hatte einen tragischen Unfall, der seinem Traum vom Rennradfahrer ein jähes Ende setzte. Er war mit seinem Rad unterwegs, wollte noch kurz vor einer Strassenbahn die Fahrbahn kreuzen, strauchelte auf dem vom Regen schmierigen Strassenbelag und wurde von der Tram überfahren. Er überlebte den schweren Unfall aber das linke Bein blieb unbeweglich. Die Sehnen des linken Beins waren durchtrennt und so war er den Rest seines Lebens auf Krücken angewiesen.

Trotz diesem Handikaps zog es Habisch weiterhin zum Nudeltopp von Treptow. Dort traf er seine Kumpels, kloppte mit ihnen Skat, trank Bier und genoss das Flair des Radsports. Bei einem der geselligen Runden erhielt Habisch auch seinen Spitznamen und nicht wie viele denken bei einem seiner vielen Performances in Berliner Sportpalast. Er selbst beschreibt den Abend so: „Man spielt und trinkt, trinkt und spielt. So vergehen die Stunden. „Lediglich eine dringende Forderung, die sich anmeldete, brachte mich von meinem Sitz hoch.“ Reinhold muss aufs Klo. Doch wo steckt die verdammte Krücke? „Ich geriet in peinlichste Nöte. In letzter Verzweiflung begann ich zu schreien: ,Meine Krücke, meine Krücke, gebt mir meine Krücke.’“ Irgendwann sind die Mitspieler so genervt, dass sie auf einen Fahnenmast zeigen. Hoch oben, in fünfundzwanzig Meter Höhe, hängt Krückes Krücke. Ab jetzt hat er den Spitznamen weg.“ 2
Seit 1911 wurde im Berliner Sportpalast, heute steht an seiner Stelle der „Sozialpalast“, das Sechs-Tage-Rennen durchgeführt. Walter Rütt gewann die erste Auflage des Rennen und natürlich war auch „Krücke“ im Publikum und als ab 1923 die Komposition Wiener Praterleben von Siegfried Translateur3 bei Highlights des Rennen gespielt wurden machte „Krücke“ aus dem belanglosen Walzer einen Gassenhauer. Abgehört von einem Leierkastenmann schob „Krücke“ zwei Finger in den Mund und setzte mit vier hintereinander folgenden Pfiffen dem Walzer die Krone auf und der absolute Ohrwurm der Sechs-Tage-Rennen war geboren, der Sportpalast-Walzer! „Krücke“ wird erst zum Star der billigen Plätze unterm Dach des Sportpalasts, dem Heuboden, dann zum heimlichen Kommentator und eigenwilligen Werbeträger wie mit seinem Pullover mit der Aufschrift „Früher oder später trinken alle Wurzelpeter“ bis er schließlich zum ungekrönten König des Entertainments der Sechs-Tage-Rennen aufsteigt, an dem kein Weg mehr vorbei führt. So moderierte er vom Heuboden aus das Betreten des Saals durch prominenten Personen, forderte wohlhabende Besucher auf Geld für neue Prämienfahrten zu spendieren oder liess ganz eigennützig am Bindfaden eine Sammelbüchse für Freibier vom Heuboden nach unten in den Saal der Gutbetuchten aber es setzte auch Prügel da nicht alle seine Performance goutierten. Zum Glück hatte er seine Krücken zur Selbstverteidigung.
Aber es gab nicht nur Zwist im Heuboden sondern auch mit dem Management der Veranstaltung. „Einmal wird es dem Pressechef des Sportpalastes, Fredy Budzinski4, zu bunt. „Der Beifall, den ,Krücke‘ nach jedem Pfeifkonzert empfing, machte den zum Original herangereiften Mann so übermütig, daß er meine Ermahnungen zu Anstand und guter Sitte fallen ließ und eines Abends seine Zwischenrufe etwas zu berlinerisch gestaltete.“
Vor seinen mit Flüstertüte vorgetragenen Zwischenrufen wurden auch berühmte Schauspielerinnen und Schauspieler nicht verschont und so folgte die Strafe. „Krücke“ bekam Hausverbot im Sportpalast. Doch der Hausherr konnte das Verbot nicht lange durchsetzen, denn die „Apachen von Berlin“5 drohten in einem Schreiben, den Sportpalast in Schutt und Asche zu legen und den Pressechef des Sportpalasts öffentlich aufzuhängen, wenn das Hausverbot nicht aufgehoben werde. Und das Hausverbot war nicht nur zu Ende sondern „Krücke“ erhielt zusätzlich noch seine Dauerkarte postwendend zurück6.
Im Juni 1930, nach dem Sieg Max Schmelings über Jack Sharkey treffen sich Schmeling und Habisch im Sportpalast wieder. „Krücke“ hatte den jungen Max Schmeling einige Jahre vorher im Sportpalast gesehen und ihm eine große Zukunft als Boxer vorausgesagt und jetzt was Schmeling ein Champion. „Wir trafen uns nach seiner Rückkehr eines Tages im Vorraum des Sportpalastes, und Max trat mit den Worten auf mich zu: ,Krücke, wieviel brauchst du?‘ Und dann zog er sein Scheckbuch und füllte das nächste Blatt über eine Summer von 3.000 Mark für Reinhold Habisch aus.“ Davon kauft er sich einen Zigarrenladen in der Kommandantenstrasse und hat endlich ein Auskommen.7
Als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernahmen brachen schlechte Zeiten auch für den Radsport an. Die braunen Machthaber verboten Sechs-Tage-Dauerfahren, vereinheitlichten die Gagen der Fahrer und verordneten eine Werbeverbot auf den Trikots. Die Reichsmusikkammer verbot den Prater-Walzer weil der Komponist Siegfried Translateur ein Halbjuden war. 1934 fand das vorerst letzte Sechs-Tage-Rennen statt und zum Ärger der Nazis und speziell dem Führer, der die Berliner eh nie mochte, stimmte „Krücke“ den Sportpalast-Walzer an und 10.000 Besucherinnen und Besucher pfiffen mit.
Die Machtübernahme machte auch vor der Ladentüre von „Krücke“ Habisch nicht halt. Er blieb seinen jüdischen Kunden treu und wird deshalb boykottiert, so dass er bereits 1935 seinen Zigarrenladen wieder schliessen muss. Danach versuchte er mit einem mobilen Obst- und Gemüsestand in Berlin-Reinickendorf den Lebensunterhalt8 zu verdienen.
Am 7. Januar 1964, einen Tag vor seinem 75. Geburtstag, verstirbt Reinhold Franz Habisch und wird auf dem Neuen Teil des Kirchhofs der St.-Thomas-Gemeinde (Ostseite) in Berlin-Neukölln begraben.9 Bei der Beerdigung erwiesen ihm zahlreiche Radsportler und sonstige Prominenz die letzte Ehre. „Krücke“ erhielt ein Ehrengrab des Landes Berlin.

1 Der „Nudeltopp“, die Treptower Rennpiste, wurde bereits 1898 als kleine Lehmbahn eröffnet und einige Jahre später entscheidend erweitert: Die Firma Boswan & Knauer hatte der Bahn die gefürchteten Steilkurven mit einem Neigungswinkel von 50 Grad und 5 Minuten verpaßt. Die Mindestgeschwindigkeit, mit der diese Kurven durchfahren werden mußten, lag bei 25 km/h, die Höchstgeschwindigkeit bei 110 km/h. Daß es häufig zu Unfällen kam, manchmal sogar zu tödlichen, gehört heute zum gepflegten Mythos des Bahnsports, der binnen kurzer Zeit zu einem beliebten Volkssport wurde. (aus TAZ vom 29.8.1997)
2 Aus „Deutschlands Original Krücke. Auf Rennbahnen unter Rennfahrern“, Reinhold Habisch, 1950
3 Siegfried Translateur wurde 1944 als Halbjude in Theresienstadt ermordet.
4 Fredy Budzinski arbeitet in den folgenden Jahren als Journalist und Pressechef der Olympischen Spiele 1936.
5 Apache ist eine damals gebräuchliche Bezeichnung für Gauner
6 Berliner Morgenpost, 21.1.2014
7 Wolfgang Helfritsch: 6. Februar 1926 – Im Sportpalast: „Original Böser Buben Ball“. In: Berlinische Monatsschrift (Luisenstädtischer Bildungsverein). Heft 2, 2001, ISSN 0944-5560 (https://zdb-katalog.de/list.xhtml?t=iss%3D%220944-5560%22&key=cql), S. 79–83 (luise- berlin.de (https://luise-berlin.de/bms/bmstxt01/0102detc.htm)).
8 Generalsekretariat der Sektion Radfahren der DDR (Hrsg.): Illustrierter Radrennsport. Nr. 10. Berlin 1950, S. 8.
9 Grab von Reinhold Habisch. (http://knerger.de/html/habischrsonstige_69.html) knerger.de